Niltal: Frühe Reife im 4. Jahrtausend

Niltal: Frühe Reife im 4. Jahrtausend
Niltal: Frühe Reife im 4. Jahrtausend
 
Es gehört zu den ureigensten Aufgaben der historischen Wissenschaften, die geschichtlichen Phänomene zu sichten, zu ordnen und zu gliedern. Langfristige Entwicklungsprozesse werden nach ihrem Anfang und Ende, nach ihrem Ursprung und Ziel und ihren kausalen Verknüpfungen befragt. Die Geschichtsschreibung sucht nach Zusammenhängen im Dickicht der einzelnen Ereignisse, und sie neigt in ihrem Ordnungseifer dazu, Raum und Zeit durch immer feinere Raster zu gliedern, geschichtliche Abläufe in Phasen zu unterteilen und Kulturräume in einzelne Regionen zu zerlegen. In der Vorgeschichtsforschung wird nicht selten um einen Fundplatz, der in seinem Fundgut eigenständige Züge zeigt, eine eigene »Kultur« geschaffen - nicht ohne dass der Ehrgeiz des Ausgräbers dabei ganz unbeteiligt wäre. Erst der allmähliche Fortschritt der Forschung integriert diese lokalen Varianten wieder in den langfristigen und großflächigen Gang zivilisatorischer Evolution.
 
Wenn im Zusammenhang mit Altägypten von Vorgeschichte gesprochen wird, dann ist damit ein Zeitraum gemeint, der nur in seiner Endphase genauer definiert ist, während sein Beginn verschwommen bleibt. Als Kriterium der Unterscheidung zwischen Vorgeschichte und Geschichte gilt für Altägypten die Entwicklung der Schrift - ist es doch das geschriebene Wort, das eine Person, eine Örtlichkeit aus der Anonymität, der Namenlosigkeit heraushebt und ihnen zur Individualität, zur Unverwechselbarkeit verhilft. Durch seine schriftliche Fixierung verliert sich ein Ereignis nicht mehr in der Tiefe der Unendlichkeit, sondern wird für die Nachwelt nachvollziehbar; die Schrift gebietet dem Vergessen Einhalt, sie schafft Geschichte.
 
Wann nun im alten Ägypten dieser Schritt aus der Namenlosigkeit der Ereignisse und Menschen, aus der Vorgeschichte hinein in die Geschichte, in die schriftlich dokumentierte Zeit getan wurde, ist in der aktuellen Forschung nicht weniger umstritten als der Anstoß, der Ursprung dieser weltgeschichtlich so folgenreichen Entwicklung. Noch vor wenigen Jahren galt die Zeit um 2900 v. Chr. als Beginn der Geschichte Ägyptens. In den Königslisten des Neuen Reiches und in deren späten Abschriften in griechischer Sprache stehen am Anfang der Herrscherfolge die Namen von Königen, die mit Herrschern identifiziert werden können, die auf frühgeschichtlichen Ton- und Steingefäßen sowie auf Rollsiegeln und Geräten genannt werden. Naturwissenschaftliche Datierungsverfahren, insbesondere die Radiokarbonmethode und - mit erheblichen Einschränkungen - die Thermolumineszenzmethode, gestatten heute die absolute Datierung dieser Fundgegenstände in die Zeit um 3100 v. Chr.
 
Vor diese Zeit, die nach den griechischen Königslisten als die 1. Dynastie bezeichnet wird, führen aber seit jüngster Zeit Inschriften zurück, in denen mehrere frühere Könige genannt werden. Im frühgeschichtlichen Friedhof von Abydos in Oberägypten sind bei Grabungen des Deutschen Archäologischen Instituts unter Leitung von Günther Dreyer Siegelabdrücke und Inschriften mit Königsnamen und Wirtschaftsdaten gefunden worden, die den Beginn der Schriftentwicklung um zwei Jahrhunderte vorverlegen, in die Zeit um 3300 v. Chr. Damit gewinnt die seit Jahrzehnten verstummte Diskussion neue Nahrung, wo die Wiege der Schrift zu suchen sei, im Zweistromland oder am Nil. Die Entdeckung der »Dynastie 0« verlängert nicht nur die ägyptische Geschichte um Jahrhunderte zurück ins 4. Jahrtausend v. Chr., sondern sie lässt den Übergang von der Vorgeschichte zur geschichtlichen Zeit, der - markiert durch die »Erfindung« der Schrift - nicht selten als ein punktuelles Ereignis geschildert wird, als einen längerfristigen Evolutionsprozess erkennen.
 
Damit wird die »Reichseinigung« als historisches Ereignis der Staatwerdung Ägyptens zu einem Konstrukt, zu einem historiographischen Topos, der einen vielschichtigen, langwierigen Prozess in einem fiktiven Einzelereignis zusammenfasst und darstellbar macht, wie es die Narmerpalette zeigt. Das Bild des Königs Narmer, der sich anschickt, einen Feind zu erschlagen, ist im Licht der aktuellen Forschung nicht mehr als historisches Dokument des Sieges des oberägyptischen Herrschers über den Norden des Landes, das Delta, zu verstehen, sondern als ein heraldisches Motiv, das die generelle Überlegenheit Pharaos dokumentiert.
 
Schon lange vor der 1. Dynastie ist das ägyptische Niltal ein kulturell homogenes Territorium. Bei Grabungen der letzten beiden Jahrzehnte sind an Fundplätzen des Nildeltas Keramik und Steingefäße, Paletten und Feuersteinmesser als Grabbeigaben gefunden worden, die sich deckungsgleich in das Bild der ägyptischen Vorgeschichte einfügen, wie es bislang ausschließlich aufgrund von Fundmaterial aus Mittel- und Oberägypten gezeichnet worden war. Der geographisch abgegrenzte Kulturraum des ägyptischen Niltals hat also lange vor der eigentlichen Staatwerdung des Pharaonenreiches eine flächendeckende kulturelle Kontinuität entstehen lassen.
 
Ihre Wurzeln hat diese Entwicklung jedoch außerhalb Ägyptens. Dass die enge räumliche Nachbarschaft zum Vorderen Orient anregend auf Ägypten wirkte, ist den Motiven der bemalten Keramik und der Elfenbeinschnitzereien unschwer zu entnehmen. Dass das frühe Ägypten aber neben seinen Verbindungen zum Nahen Osten auch tiefe Wurzeln im afrikanischen Kontinent hat, ist ein Ergebnis der Feldforschung der letzten Jahrzehnte. Großflächige archäologische Surveys im Wüstengebiet zwischen Nil und libyscher Grenze sowie im Nordwesten des Sudan haben gezeigt, dass im späten Paläolithikum die Ostsahara die klimatischen Voraussetzungen für nomadisierende und häufig auch sesshafte Lebensweise bot. Siedlungsplätze, Werkplätze zur Herstellung von Feuersteingeräten und zahlreiches keramisches Material belegen die Präsenz des Menschen in dieser heute lebensfeindlichen Zone zwischen 10 000 und 5000 v. Chr., für einen Zeitraum, in dem sich die »Neolithisierung« vollzog, also die Kultivierung von Getreide und die Domestizierung von Vieh, der Übergang von der Daseinsform des Jägers und Sammlers zum Ackerbauer und Viehzüchter.
 
Dieser Befund wird in geradezu spektakulärer Weise bestätigt und ergänzt durch Grabungsergebnisse aus dem sudanesischen Niltal. An mehreren neolithischen Fundstellen, deren südlichste in unmittelbarer Umgebung von Khartum liegt, also südlich des sechsten Katarakts, wurde Keramik höchster technischer Perfektion und formaler Vollendung ausgegraben, großformatige kugelförmige Näpfe und Tulpenbecher, deren geritzte Oberflächendekoration Flechtmuster zeigt. Hier hat eine Tradition der Keramikproduktion ihren Ursprung, die über mehr als vier Jahrtausende ein spezifisches Merkmal des nubischen und sudanesischen Niltals blieb und die ihresgleichen in Ägypten nicht kennt. Weibliche Idole aus Sandstein und Keramik von denselben Fundstellen sind die ältesten figürlichen Arbeiten des Niltals.
 
Diese afrikanischen Wurzeln der pharaonischen Hochkultur, noch vor drei Jahrzehnten gänzlich unbekannt, werden am Ende der antiken Geschichte ihre spätesten Verzweigungen wieder in den afrikanischen Kontinent aussenden und über das sudanesische Königreich von Meroe die zentral- und westafrikanischen Kulturen befruchten. Wege, Dauer und Art dieses kulturellen Brückenschlags quer durch den afrikanischen Kontinent aufzudecken, wird die Aufgabe künftiger Forschung sein, zu der die archäologische und ethnologische Feldforschung ebenso ihren Beitrag leisten müssen wie die Sprachwissenschaft.
 
Prof. Dr. Dietrich Wildung

Universal-Lexikon. 2012.

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